Nach 8 Jahren Prozessdauer: € 550.000,- Schmerzensgeld + vollen materiellen Schaden für groben Behandlungsfehler bei Frühgeburt

Das Ortenau-Klinikum in Offenburg muss € 550.000,- Schmerzensgeld an ein heute 8-jähriges Mädchen zahlen. Das LG Offenburg hat es aufgrund eines Sachverständigengutachtens als erwiesen erachtet, dass dem diensthabenden Arzt ein sog. „grober Behandlungsfehler“ im Rahmen einer Frühgeburt unterlaufen war. Bei dieser Frühgeburt war es zu Hirnblutungen bei dem Neugeborenen gekommen. Das heute 8-jährige Mädchen hat schwere, irreversible Hirnschädigungen erlitten: es ist gelähmt, blind und leidet unter Epilepsien. Da die Beweislast für die Kausalität des Fehlers für die Blutungen beim groben Behandlungsfehler auf den behandelnden Arzt abgewälzt wird, musste dieser sich entlasten und beweisen, dass die Blutungen auch bei ärztlich korrektem Verhalten aufgetreten wären. Dieser Beweis ist in der Regel unmöglich und war dem beklagten Arzt und der Klinik auch hier erwartungsgemäß nicht gelungen.

Das Gericht hatte den Beteiligten einen Vergleich in Höhe von € 615.000,- vorgeschlagen, in dem auch der materielle Schaden in Höhe von € 65.000,- mit abgegolten werden sollte; die Haftpflichtversicherung der Klinik hatte jedoch abgelehnt.

LG Offenbach, Urteil v. 01.09.2017, 3 O 386/14

Schmerzensgeld für Hinterbliebene in Kraft

Es ist geschafft: Am 22.7.2017 ist das Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld (BGBl. I 2017, Nr. 48, Seite 2421 ff.) in Kraft getreten. Bei Unfällen mit Todesfolge, aber auch bei anderen Ereignissen, wie z.B. bei ärztlichen Behandlungsfehlern mit Todesfolge können die Hinterbliebenen eines getöteten Angehörigen jetzt unmittelbar vom Verursacher des Unfalls wegen ihres Schocks und ihrer Trauer ein angemessenes Schmerzensgeld verlangen, wenn der Schädiger rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hatte. Das ist nun in § 844 Abs. 3 n.F. BGB Gesetz geworden:

„(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.“

Das gab es in Deutschland noch nie: Während alle umliegenden EU-Mitgliedsstaaten schon lange ein pauschales Schock- bzw.Trauer- Schmerzensgeld gewährt haben (Intalien z.B. generell € 50.000,-), gab es in Deutschland Schmerzensgeld für nur mittelbar betroffene Personen (also Angehörige u.a.) nur, wenn diese physisch objektivierbare Auswirkungen der Trauer erlitten hatten, also etwa Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Depressionen. Diese Beschwerden mussten dargelegt und – bei Bestreiten durch den Versicherer des Unfallverursachers – auch bewiesen werden. Beweisen werden musste auch der Umstand, dass diese Symptome durch den Tod des Angehörigen verursacht wurden und nicht etwa anderweitig. Und nur wenn diseer Nachweis gelungen war, gab es ein bißchen was (Deutschland: „Indianer kennt keinen Schmerz“).

Meine persönliche Enschätzung

Das ist gut:

Seit dem 22.7.2017 brauchen die Hinterbliebenen diesen Nachweis physischer Beschwerden nicht mehr zu erbringen.

Das ist nicht gut:

Allerdings hat der Gesetzgeber erneut darauf verzichtet, eine angemessene Mindesthöhe vorzugeben. Das ist schade, denn die Höhe ist immer Geschmackssache des jeweils zuständigen Gerichts. Es ist also vorprogrammiert, dass es von Gericht zu Gericht in den ersten Jahren erhebliche Unterschiede geben wird. Dabei ist Trauer um einen nahen Angehörigen doch für alle Bundesbürger gleich schmerzlich, oder?

Das befürchte ich:

Jetzt geht das Geschachere mit den Rechtsschutzversicherungen wieder los, die ihre Deckungszusage – wie immer – nur für eine bestimmte, von ihnen selbst bewilligte Höhe des Schmerzensgeldes geben werden. Da die Gerichts- und Anwaltsgebühren von der Höhe des Schmerzensgeldes abhängen, waren die Rechtsschutzversicherungen (bis auf eine Ausnahme) immer sehr geizig. Und die Richter sagen: „Wenn Sie nicht mehr verlangen, kann ich Ihnen auch nicht mehr bewilligen“.

Wie ist Ihre Meinung dazu?

Anfechtungsrecht: Unternehmen dürfen hoffen – Zwangsvollstreckung nun doch kein ausreichendes Indiz mehr für Zahlungsunfähigkeit

Nachdem der BGH am 1. Juni 2017 eine Zwangsvollstreckung des Finanzamts noch lediglich unter dem Aspekt der Rechtshandlung (ablehnend) gewürdigt hatte, hat er kurz darauf in gleich zwei aufeinanderfolgenden Entscheidungen erkannt, dass die Zwangsvollstreckung für sich allein genommen nun doch kein ausreichend sicheres Indiz für eine (drohende) Zahungseinstellung des Kunden mehr ist, und zwar weder in Form der Einmal-Zahlung (Urteil vom 22.06.2017 Az. IX ZR 111/14) noch in Form einer Ratenzahlungsvereinbarung mit dem Gerichtsvollzieher nach § 806b a.F. ZPO (Urteil vom 06.07.2017 Az. IX ZR 178/16 ). Und das, obwohl vor der Zwangsvollstreckung in beiden Fällen selbstverständlich das gesamte Mahn- und Droh-Programm abgespult worden war.

In dem Fall vom 22.06.2017 hatte der Kunde sogar zunächst eine Abschlagszahlung wie verlangt pünktlich bezahlt, die zweite Zahlung konnte er aber schon nur noch teilweise und auch nicht pünktlich bezahlen, und die übrig gebliebene Restsumme mußte angemahnt, tituliert und sodann vollstreckt werden. Das OLG Dresden hatte das Unternehmen denn auch zur Rückzahlung verurteilt und das war ja auch jahrelang der BGH-Klassiker für eine Zahlungsunfähigkeit! Jetzt nicht mehr.

Der BGH konzediert endlich, dass es für eine Nicht-Zahlung von titulierten Ansprüchen auch andere Gründe gibt als nur den Mangel an Zahlungsmitteln, z.B. Nachlässigkeit (na ja!). Deshalb sei die Zwangsvollstreckung kein ausreichend sicheres Indiz mehr für eine eingetretene oder bevorstehende Zahlungsunfähigkeit. Hört, hört!

Das Ergebnis ist richtig, der Weg vielleicht nicht ganz. ABER:

Ganz am Rande wird vorsichtig und zaghaft ein ganz anderer – und wie ich meine wesentlicher – Aspekt (endlich) angesprochen:

In erfrischend juristischen Ausführungen legt der Senat dar, dass es in § 133 Abs. 1 InsO gar nicht darum geht, den – durch die ZPO gesetzlich ausdrücklich erlaubten (!) – Wettlauf der Zwangsvollstreckungen zu korrigieren (first strike – first go); das werde bereits durch §§ 130 – 131 InsO abschließend erledigt (meine Rede!). § 133 Abs. 1 InsO korrigiere lediglich einen unfairen Vorteil, den ein Gläubiger sich mit Hilfe des Schuldners in diesem Wettlauf gegenüber anderen Gläubigern verschafft habe. DA liegt also der Hase im Pfeffer!

Was ist passiert? Ein Personalwechsel?

Es sieht ganz so aus: Das Urteil wurde von Herrn RiBGH Dr. Schoppmeyer mit verfasst, der genau diese Systematik des § 133 InsO bereits in einem sehr lesenswerten Aufsatz in der NZI 4/2005, S. 185 ff. („Besondere und allgemeine Insolvenzanfechtung am Beispiel der Anfechtung von Zwangsvollstreckungen“) erstmalig in dieser Klarheit herausgearbeitet hatte, damals noch als Richter am OLG Karlsruhe. Seit einiger Zeit ist er nun beim BGH tätig und seitdem lesen sich manche von ihm mit unterschriebenen Urteile erfrischend juristisch!

Das nachfolgende Urteil vom 6.7.2017 wurde zwar nicht mehr von ihm mit verfasst, aber die übrigen Richter beziehen sich ausdrücklich auf die Vor-Entscheidung und folgen dieser in jedem Punkt. (Eventuell muss man bei den Rechtsmitteln nicht mehr unbedingt auf die Besetzung des Senats schielen…) Allerdings war hier die Besonderheit, dass es sich um einen erstmaligen Kundenkontakt und um eine relativ geringfügige Forderung gehandelt hatte, die nur im Wege der Raten-Vollstreckung erledigt werden konnte. Die Vorinstanz (LG Köln) hatte dies bereits ebenso gesehen und das wurde vom BGH auch so bestätigt.

Mein Rat:

Künftig wird es den Verwaltern also darum gehen, den unfairen Vorteil herauszuarbeiten, den Sie sich gegenüber anderen Gläubigern angeblich verschafft haben. Da kommt einer beherrschenden Stellung und der Drohung mit der Einstellung der Belieferung sicherlich wieder eine gewisse Bedeutung zu, aber eben NICHT die Einstellung der Belieferung wegen der Einhaltung des internen Kreditlimits! Das ist etwas völlig anderes! Es bleibt jetzt abzuwarten, wo der BGH genau die Fairness-Grenze zieht.

Verfolgen Sie Ihre Abwehrstrategie also unbedingt bis zum BGH weiter! Auch wenn es sich nicht um einen Vollstreckungsfall handelte. Lassen Sie sich nicht durch Verurteilungen von LG und OLG entmutigen (insbesondere nicht vom OLG Dresden!). Verteidigen Sie sich rechtzeitig und richtig und halten Sie dann durch – es könnte sich auch in Ihrem Fall lohnen.

Geben Sie mir Ihre Fälle gern zur Überprüfung herein; eine kursorische Einschätzung erhalten Sie von mir kostenlos!

Wann ist ein Bargeschäft trotz Kenntnis von Zahlungsunfähigkeit unanfechtbar?

Nichts ist sicher im Insolvenzanfechtungsrecht, nicht einmal das Bargeschäft! Was der vorläufige Insolvenzverwalter darf, nämlich Einkäufe tätigen um den Betrieb einstweilen fortzuführen, darf der Schuldner noch lange nicht. Und büßen muss es der Lieferant, der am Ende kostenlos geliefert haben wird, ohne es zu wissen. Zwar entfällt beim Bargeschäft schon per definitionem die gläubigerbenachteiligende Wirkung (die ein zwingendes Tatbestandsmerkmal jeder Anfechtung ist und vom Insolvenzverwalter zu beweisen ist); denn ein Bargeschäft liegt erst dann vor, wenn eine wertausgleichende Zahlung für eine gleichwertige Lieferung geleistet wurde, und zwar zeitnah, also innerhalb des vereinbarten Zahlungsziels.

Trotzdem wurden auch Bargeschäfte regelmäßig angegriffen, und mit Erfolg: Der BGH hat den Regelsatz aufgestellt, dass die Gläubiger auch dann – mittelbar – benachteiligt werden, wenn der Wertausgleich der konkreten Transaktion zwar positiv ist, das Unternehmen aber nicht kostendeckend arbeitet und daher weitere Verluste macht (sog. „mittelbare“ Benachteiligung).

Das mag der Schuldner vielleicht wissen – und entsprechenden Gläubigerbenachteiligungsvorsatz haben -, aber was hat der Lieferant damit zu tun, der die finanziellen Verhältnisse und vor allem die Kalkulationsgrundlage seines Kunden in der Regel gar nicht kennt?

Ganz einfach: Der Lieferant muss ja nur die „drohende“ Zahlungsunfähigkeit kennen. Alles andere ergibt sich nach Auffassung des BGH von allein, denn die drohende Zahlungsunfähigkeit indiziert die gläubigerschädigende Wirkung der Zahlung, und auf den unmittelbaren Wertausgleich, also den bilanziellen „Aktiva-Tausch“ kommt es im Rahmen des § 133 Abs. 1 InsO ja nicht mehr an, der wurde ja bereits bei der Prüfung des Bargeschäfts geprüft und positiv beantwortet.

Jetzt hat der BGH hierzu eine Korrektur vorgenommen (Vorsicht: die Richter des BGH sprechen nie von „Korrektur“, immer nur von „Klarstellung“):

Ein Getränkehändler musste im März 2012 Insolvenz anmelden. Nach etlichen Rücklastschriften hatte der Lieferant ihn schließlich nur noch gegen Vorkasse beliefert und der Schuldner zahlte die Lieferungen – abweichend von der üblichen Abbuchung – bar. Der BGH hat bestätigt, dass der Lieferant ausreichende Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit hatte. Allerdings – so die Richter – musste sich ihm nicht unbedingt die mittelbare Benachteiligung durch die unrentable Fortführung des Unternehmens aufdrängen:

Während beim Schuldner das Bewusstsein vermutet wird:

„Auch im Falle eines bargeschäftsähnlichen Leistungsaustausches wird sich der Schuldner der eintretenden mittelbaren Gläubigerbenachteiligung allerdings dann bewusst werden, wenn er weiß, dass er trotz Belieferung zu marktgerechten Preisen fortlaufend unrentabel arbeitet und deshalb bei der Fortführung seines Geschäfts mittels der durch bargeschäftsähnliche Handlungen erworbenen Gegenstände weitere Verluste anhäuft, die die Befriedigungsaussichten der Gläubiger weiter mindern, ohne dass auf längere Sicht Aussicht auf Ausgleich besteht.“

muss der angreifende Verwalter dieses Bewusstsein beim Lieferanten vollumfänglich beweisen:

„Dem Gläubiger kann in diesem Fall wegen des gleichwertigen Leistungsaustauschs wie dem Schuldner trotz Kenntnis von dessen Zahlungsunfähigkeit die gläubigerbenachteiligende Wirkung der an ihn bewirkten Leistung nicht bewusst geworden sein. Die gesetzliche Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO greift dann nicht ein. Der zweite Teil des Vermutungstatbestandes ist nicht erfüllt. Anders liegt es nur, wenn der Anfechtungsgegner weiß, dass der Schuldner unrentabel arbeitet und bei der Fortführung seines Geschäfts weitere Verluste erwirtschaftet. Dann weiß er auch, dass der bargeschäftsähnliche Leistungsaustausch den übrigen Gläubigern des Schuldners nicht nutzt, sondern infolge der an den Anfechtungsgegner fließenden Zahlungen Nachteile bringt.“

„Die Voraussetzungen der Anfechtbarkeit einer Rechtshandlung hat der Insolvenzverwalter darzulegen und zu beweisen. Im Falle der Vorsatzanfechtung nach §133 Abs. 1 InsO gehört hierzu die Kenntnis des anderen Teils vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners. Beruft sich der Insolvenzverwalter auf die Vermutungswirkung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO und steht, wie hier, ein bargeschäftsähnlicher Leistungsaustausch fest, ist die von der erkannten drohenden Zahlungsunfähigkeit ausgehende Indizwirkung für die Kenntnis von einer Gläubigerbenachteiligung nicht gegeben. Es obliegt dann dem Verwalter, darzulegen und erforderlichenfalls zu beweisen, dass der Anfechtungsgegner von der Unwirtschaftlichkeit der Geschäftsfortführung des Schuldners wusste und deshalb nicht annehmen durfte, der Leistungsaustausch werde der Gläubigergesamtheit nutzen.“

„Wer’s nicht glaubt – Fußnote“:

BGH, Urt. v. 04-05-2017, IX_ZR_285/16 (Getränkehändler-Fall)

Die neue Europäische Insolvenzverordnung 848/2015 v. 20.05.2015 ist in Kraft!

Seit gestern gelten für crossborder-Insolvenzverfahren innerhalb der EU ganz neue Regeln. Sie gelten unmittelbar und müssen nicht extra in nationales Recht umgesetzt werden. Schauen Sie mal rein:

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32015R0848&from=DE

In Kürze erscheint an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung der neuen Regeln mit besonderem Augenmerk auf die Relevanz für Gläubiger. Bleiben Sie dran!

Last exit in der Strafverteidigung: Die Besetzungsrüge!

Dem angeklagten Arzt drohte wegen angeblichen Abrechnungsbetruges in 16 Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren, dazu Berufsverbot, Entzug der KV-Zulassung – die ganz große Oper. Wenn alles nichts hilft – mit der „Besetzungsrüge“ kann der Verteidiger ein „last exit“ im Strafverfahren und vor allem eine Verhandlungssituation über eine sog. „Verständigung“ nach § 257c StPO erreichen . Berufung und Revision führen nur in seltenen Fällen zur Aufhebung eines Strafurteils. Bei der Besetzungsrüge ist das allerdings anders! Es gehört also zur ureigensten Aufgabe eines Strafverteidigers, nicht nur die Anklageschrift und die Beweismittel zu studieren (und sich in der Materie bestens auszukennen), sondern auch die Besetzungsliste der Kammern anzufordern und sie zu überprüfen. Dabei fallen nämlich nicht selten Fehler z.B. bei der Auswahl der Schöffen ins Auge. Allerdings hat der Verteidiger dafür nur bis zum ersten Verhandlungstag Zeit. Eine rügelose Verhandlung am ersten Tag heilt bereits die Fehlbesetzung.

Fehlbesetzungen können aber auch im Laufe der – oft mehrmonatigen – Verhandlung passieren, wie folgender Fall zeigt, der am 07.11.2016 vom BGH – 2 StR 9/15 – entschieden wurde:

Die von der Strafkammer durchgeführte Hauptverhandlung gegen den Angeklagten begann am 24.08.2012 und endete am 11.04.2014. Zwischen dem 20.12. und dem 03.01. fand keine Verhandlung statt. Der Prozess endete mit einer Verurteilung des Angeklagten zu 7 Jahren Freiheitsstrafe. Die Strafkammer war mit 3 Berufsrichtern (und 2 Schöffen) besetzt. Einer der Berufsrichter war eine Frau und diese war noch am letzten Verhandlungstag vor der Weihnachtspause – deutlich sichtbar – hoch schwanger gewesen. Am nächsten Verhandlungstag, dem 03.01.2014, war sie das aber offensichtlich nicht mehr. Womöglich hatte sie in der Zwischenzeit entbunden, ihre Tätigkeit aber – zur Freude des Kammervorsitzenden – sogleich wieder aufgenommen, denn sonst wäre der Prozess gegen den Angeklagten wegen Überschreitung der 3-Wochen-Frist zwischen den Terminen geplatzt. Rechtsanwältin Pfiffikus kannte sich allerdings mit dem Mutterschutzgesetz und den Beamtengesetzen des Landes aus:

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Mutterschutzgesetz („MuSchG“) in Verbindung mit § 1 Abs. 1, Satz 1 Nr. 2 Hess MuSchEltZVO besteht ein absolutes Beschäftigungsverbot für 8 Wochen nach der Entbindung eines (lebenden) Kindes.

Sie erbat also Auskunft darüber, ob und wann die Richterin entbunden hätte. Eine Auskunft bekam sie allerdings nicht, und zwar weder vom Kammervorsitzenden noch vom Präsidenten des Landgerichts noch vom Justizministerium. Die (rechtzeitig erhobene) Besetzungsrüge wurde abgeschmettert mit der Begründung, die Richterin könne selbst entscheiden, ob sie überobligatorischen Dienst verrichten wolle oder nicht. Der Prozess ging weiter und der Angeklagte wurde verurteilt.

Nun gibt es einen Erfahrungsgrundsatz: Wenn man von Behörden KEINE Auskunft erhält, dann ist etwas richtig faul. So auch hier:

Auf die Revision der Verteidigerin hob der Bundesgerichtshof das Urteil am 7.11.2016 wieder auf, und verteilte gleichzeitig eine justizielle Ohrfeige an den Kammervorsitzenden: Das Beschäftigungsverbot sei ernst gemeint, denn es handle sich um ein GESETZLICHES VERBOT! Darauf kann auch die Mutter nicht verzichten! (Das können Strafrichter natürlich nicht wissen, ist ja klar!) Der Verstoß habe deshalb automatisch dazu geführt, dass die Richterbank nicht „gesetzlich korrekt“ besetzt war. Das Urteil wurde aufgehoben und Verfahren an eine andere Kammer des Landgerichts zurück verwiesen. Es muss nun wieder von vorn angefangen werden.

FAZIT:

Die Anwältin hat damit eine günstige VERHANDLUNGSSITUATION herbeigeführt. Sitzt der Angeklagte allerdings in Untersuchungshaft, dann hat sie Zeitdruck, denn mit ihrer erfolgreichen Rüge hat sie zunächst mal nur die U-Haft ihres Mandanten auf unabsehbare Zeit verlängert, ohne in der Sache etwas gewonnen zu haben! Und DAS muss der Mandant ja mögen!

Schmerzensgeld für Hinterbliebene (2)

Der Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 hat endgültig den Stein ins Rollen gebracht:

Am Mittwoch, den 30.11.2016, hat Justiziminister Maas (SPD) der Bundesregierung nach langen und intensiven Diskussionen jetzt endlich einen Gesetzentwurf vorgeschlagen. Der geht jetzt durch die anderen Ministerien und wir haben begründete Hoffnung, dass noch in dieser Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz verabschiedet wird.

Der Entwurf ist noch nicht öffentlich, allerdings hat am 1.12.2016 über dieses Thema bereits eine Bundestagsdebatte stattgefunden.

http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18206.pdf (ab S. 20599 ff.)

Schmerzensgeld für Hinterbliebene

Überall in der EU gibt es für Trauer, Schock und psychische Belastungen von Hinterbliebenen einer tödlich verletzen Person Schmerzensgeld, nur nicht in D. Lediglich körperliche, also (psycho-)somatische Schäden können in D einen Schadensersatzanspruch auslösen, allerdings müssen sie messbar sein und dürfen nur auf das Schockereignis zurück zu führen sein. Ein selbständiger Unternehmer, der mit ansehen musste, wie sein Kind totgefahren wird, bekommt also allenfalls ein paar Cent für Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit oder Bluthochdruck, wenn er sie beweisen kann. Für ein posttraumatisches Syndrom mit Erwerbsunfähigkeit bekommt er dagegen gar nichts. Das ist bei Unfällen im EU-Ausland allerdings anders, denn in den Nachbarländern gibt es in der Regel eine Mindest-Summe für Hinterbliebene (Bsp.: Österreich und Italien € 50.000,- Mindestsumme), und zwar ohne dass man die psychischen Belastungen umständlich belegen muss. Sie werden schlicht vermutet.

Bei grenzüberschreitenden Verkehrsunfällen kommt es also darauf an, welches Recht anwendbar ist. In Betracht kommt das Recht des Staats,

  • in dem der Autounfall, Skiunfall etc. stattgefunden hat oder
  • in dem die Schadensfolge eingetreten ist.

Früher konnte der Geschädigte die für ihn günstigere Rechtsordnung wählen.

Seit dem 11.01.2009 gilt innerhalb der EU jedoch die „Rom-II“-Verordnung.

Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO lautet:

„Auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung ist das Recht des desjenigen Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, nicht dagegen das Recht des Staates, in welchem das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind.“

Die EU hat sich also auf die „direkte Schadensfolge“ als Anknüpfungsmerkmal für das anzuwendende Recht festgelegt.

Ein solcher Fall war im Jahr 2015 Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem EuGH zwischen dem in Rumänien wohnhaften Herrn Lazar und der italienischen Versicherungsgesellschaft Allianz SpA wegen des Ersatzes von Vermögens- und Nichtvermögensschäden, die Herrn Lazar durch den Tod seiner Tochter entstanden sind, die bei einem Verkehrsunfall in Italien ums Leben gekommen war.

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 10.12.2015 – Rs. C-350/14 (Florin Lazar ./. Allianz SpA) präzisiert, dass Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO im Falle von Verkehrsunfallschäden so auszulegen ist, dass Schäden, die nahe Verwandte im ­Zusammenhang mit dem Tod einer Person erlitten haben, nur als „indirekte Schadensfolgen“ dieses Unfalls im Sinne dieser Vorschrift anzusehen sind. Da der Geschädigte in Rumänien wohnhaft war, war diese indirekte Schadensfolge somit in Rumänien eingetreten. Darauf kommt es aber nicht an, so der EuGH:

Der hier maßgebliche „Schaden“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO war nach Auffassung der EuGH-Richter nämlich bereits mit der Verletzung der verstorbenen Tochter eingetreten und nicht erst mit der Schockfolge beim Vater. Der „Schaden“ war nach Auffassung der Richter also in Italien eingetreten. Somit richten sich auch die Folgeschäden nach italienischem Recht.

Im Ergebnis konnte das italienische Gericht auf die Frage, ob es dem Vater Schmerzensgeld für den erlittenen Schockschaden zubilligen durfte, daher italienisches Recht anwenden. Der Vater konnte somit von der Allianz SpA Schmerzensgeld nach italienischem Recht verlangen.

Internationales

AEUV

(Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ehem. EG-Vertrag)

Art. 49

Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind […] verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines (anderen) Mitgliedstaats ansässig sind.

Die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen.

Vertragliche Lösungsklauseln für die Finanzindustrie (2)

Wie bereits berichtet, plant die Bundesregierung eine Änderung der Insolvenzordnung zu Gunsten der Finanzindustrie, indem vertragliche Lösungsklauseln für den Fall der Insolvenz des (Bank-)Kunden erlaubt werden sollen. Der BGH hatte gerade geurteilt, dass vertragliche Lösungsklauseln auch im Finanzsektor nicht insolvenzfest sind, da hatte die BaFin das Urteil durch Allgemeinverfügung bereits ausgesetzt. Verfassungswidrig, so die Professoren, die am 9.11.2016 im Deutschen Bundestag als Sachverständige zum 3. Insolvenzänderungsgesetz (Erlaubnis insolvenzfester Lösungsklauseln für die Finanzindustrie) angehört wurden. Auch der Entwurf selbst erfuhr harsche Kritik durch die Hochschul-Elite. Prof. Paulus (Humboldt-Universität, Berlin) sprach von einem „massiven Lobbyismus“ der Finanzdienstleister, der keine Rechtfertigung finde. Prof. Köndgen, (Rhein. Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn) prangerte das Privileg ausgerechnet für Banken und noch dazu „zu Lasten einfacher Insolvenzgläubiger“ an. Es sei „keine besonders starke Begründung“, dass mit der Gesetzesänderung das Insolvenzrecht „an die Vertragspraxis angepasst werden“ solle. Da im Übrigen gar nicht klar geregelt sei, dass das Privileg tatsächlich nur die Finanzindustrie betreffe, befürchtet er, dass dies der Dammbruch für Privilegien weiterer, systemrelevanter Industrien sein wird: erst Strom, dann Rohstoffe: „Dann ist da kein Halten mehr.“ Nicht unsonst war ein Vertreter des Gas- und Stromverbandes bereits anwesend.

Prof. Lucas Flöther, Insolvenzverwalter, findet den Entwurf „sehr gelungen“, unbestimmte Rechtsbegriffe seien nun mal nicht zu vermeiden. Merkwürdig, denn mit der Zulassung vertraglicher Lösungsklauseln soll die Insolvenzmasse ja erheblich verkürzt werden.

Prof. Thole (Albert-Magnus-Unviersität, Köln) fand den Entwurf ebenfalls prima, machte sich allerdings auch für eine klare Wortwahl stark, damit andere Branchen nicht mit „durchschlüpfen“ würden.

Weil es die anderen aber auch so machen, und weil es somit um die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Bankenstandorts geht, wird das Gesetz aber wohl verabschiedet werden – Gläubigergleichbehandlung hin oder her.

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